Mit dem ESC den Engeln näher
Zahlreiche Eurovisionsbeiträge enthalten christliche Botschaften – so viele, dass in einem Kloster im Sauerland sogar zu ESC-Songs gebetet wird. „Dr. Eurovision“ Irving Wolther war dabei.Gedämpftes Licht fällt durch die kleinen Fenster in den achteckigen Raum, der von einem riesigen Radleuchter dominiert wird. Umringt von Blumen und Kerzen thronen auf einer Staffelei eine Jesus- und eine Marien-Ikone und richten ihren Blick auf fünf Jugendliche, die im Gebet versunken der sonoren Stimme eines Benediktinermönchs lauschen: „Dir ist verheißen, dass du neues Leben finden wirst. Dort, wo du es bisher vielleicht am wenigsten vermutet hast. Die Zukunft ist noch ein weites Feld. Und ein Engel spricht: Fürchte dich nicht! Brich auf! In ein anderes Land, weit weg von hier …“ Und plötzlich erklingt aus einem Ghettoblaster die fröhliche Stimme von Zoë und entführt die Betenden in ein „pays loin d’ici“. Zufrieden blickt Bruder Benedikt in die Gesichter der jungen Menschen, die andächtig dem österreichischen ESC-Beitrag lauschen. Es ist nicht die letzte Song-Contest-Melodie, die im Laufe des morgendlichen Engelgebets erklingen soll.
Beten zu Grand-Prix-Musik
Wir befinden uns in der Abtei Königsmünster im sauerländischen Meschede. Dort finden seit 1981 so genannte Besinnungstage statt, die Kindern und Jugendlichen einen neuen Zugang zum christlichen Glauben ermöglichen sollen. Neben verschiedenen Freizeitaktivitäten zählt dazu auch das gemeinsame Gebet. Und weil Popmusik einen niederschwelligen Zugang zu existenziellen Fragen ermöglicht – zum Beispiel nach dem Sinn des Lebens –, stellt Bruder Benedikt seine persönliche Song-Contest-Begeisterung in den Dienst der Kirche und versucht die jungen Menschen mit ESC-Beiträgen zu erreichen: „Moldau 2013, [„O mie“ von Aliona Moon, Anm. d. Red.] ist zum Beispiel ein Super-Lied zur Schöpfungsgeschichte“, erklärt der Mönch. Und wenn man sich den Text genauer anschaut, ahnt man, was er damit meint, denn dort heißt es: „Zwischen Sonne und Regen entstehen Tausende Farben, doch wir sehen nur Wolken. Wir schufen uns Erinnerungen, die wir selbst zerstörten.“
Songs mit religiösen Botschaften
In der über 60-jährigen Geschichte des Eurovision Song Contests gibt es eine ganze Menge Beiträge, die sich mit Glaubensdingen beschäftigen – man denke nur an den serbischen ESC-Siegertitel „Molitva“ (Gebet) von Marija Šerifović. Das Gebet zum Thema hatte auch der allererste portugiesische Beitrag „Oração“ im Jahr 1964. Interpret Antonio Calvario soll auf der Bühne in Kopenhagen zum Ende seines Vortrags sogar höchst dramatisch auf die Knie gesunken sein. In vielen Texten wird Gott in Liebesdingen angerufen, doch wer genau hinhört, vermag auch in ganz unverfänglichen ESC-Beiträgen religiöse Botschaften zu entdecken. So kann ein gläubiger Song-Contest-Freund im Text zu „Here For You“ von Maraaya göttlichen Trost finden:
When you’re down, down low
Sinking in the undertow
When you’re down, down low
You know that I am here for you |
Wenn du ganz, ganz unten bist
Und der Sog der Strömung dich hinabzieht
Wenn du ganz, ganz unten bist
Weißt du, dass ich für dich da bin |
Unerschöpflicher Fundus
Die Palette der eingesetzten Song-Contest-Beiträge reicht von Kroatien 1998 („Neka mi ne svane“ – Hoffnung auf den neuen Morgen) über Irland 1996 („The Voice“ – Erlösung durch das Wort Gottes) bis zu Israel 2016 („Made of Stars“ – Vergänglichkeit und Auferstehung). Selbst Marie Maries Vorentscheidungsbeitrag „Cotton Candy Hurricane“ vermag der Mönch noch himmlische Verheißung zu entlocken: „Es geht darin ja um Liebe, und die Liebe ist Gott und im Himmel ist nur Süßigkeit.“ Doch warum eignen sich gerade ESC-Songs so sehr für die religiöse Andacht? „Sie vermitteln oft ein positives Weltbild und transportieren innerhalb von drei Minuten große Emotionen“, erklärt Bruder Benedikt. „Genau diesen Aspekt nutzen wir in unseren Gebeten – die Musik als Brücke zwischen spirituellen und lebensbegleiteten Texten.“ Das funktioniert natürlich nicht mit jedem Song: „‚Hard Rock Hallelujah‘ würde vom Text her gehen, aber nicht die Band – da würden die Jugendlichen anfangen zu lachen“, weiß der Mönch.
Begeisterung wecken
Mit seiner ESC-Leidenschaft erreicht Bruder Benedikt allerdings nicht nur die Teilnehmer der Besinnungstage, sondern auch die Praktikantinnen und Praktikanten, die ihm in der Bildungsstätte der Abtei bei der Organisation der Jugendfreizeiten behilflich sind. Denn wenn sich der Fan-Mönch im Internet darüber informiert, was die anderen Länder so in den Wettbewerb schicken, begeistert er auch die jugendlichen Helfer für sein Hobby: „Ich finde es immer wieder interessant, was der ESC ein verbindendes Gesprächsthema ist, wenn man so viel darüber weiß“, staunt Praktikant Christian Lehmgrübner. Denn das junge Assistententeam ist nicht nur über den aktuellen Jahrgang informiert, sondern kennt sich auch mit älteren Jahrgängen bestens aus: „Ich zeige ihnen hin und wieder das eine oder andere Schmankerl aus 60 Jahren ESC“, lacht Bruder Benedikt. „Teamliebling ist übrigens ‚Dancing Lasha Tumbai‘ von Verka Serduchka. Das haben wir aber noch nie im Gottesdienst gespielt.“
(Artikel von Dr. Eurovision – August 2016 auf www.eurovision.de)