Der Mönch und die himmlischen Zimbeln
Es war einmal, so beginnen viele Märchen, aber so beginnt auch unsere Legende. Es war einmal ein frommer Mönch mit den Namen Heinrich. Er entstammte der alten Thurgauer Ministerialenfamilie von Berg, die in Konstanz zum Patriziat zählte. Im Alter von 13 Jahren trat er, wohl unter dem Einfluss seiner tief religiösen Mutter, in den Orden der Dominikaner in Konstanz ein. Heinrich nannte sich nicht mehr „von Berg“, sondern nach seiner Mutter, einer geborenen von Seusen aus Überlingen. Der Name Seuse bedeutet womöglich „der Süße“, in der latinisierten Form „Suso“. Im Konstanzer Dominikanerkloster machte Br. Heinrich die zu seiner Zeit übliche klösterliche Ausbildung durch und war danach ein Jahr Novize, bis er seine Profess, sein Ordensgelübde, ablegte. Er war ein fleißiger und eifriger Schüler. Er war sogar so begabt, dass er in das Hochheilige Köln am Rhein geschickt wurde. Dort gehörte er zum engsten Schülekreis Meister Eckharts.
Die Legende erzählt uns: Es war an einen Wintertag. Kalt war es. Die winterliche Kälte durchzog über den Kreuzgang alle Räume des Klosters. Lichter flackerten in den feuchten Nischen. Kalt und feucht waren die Zellen. Viele Mönche waren froh, wenn sie an diesen Tagen sich für einige Zeit immer wieder an den Feuern und warmen Steinen der Wärmestube sich aufwärmen konnte. Br. Heinrich hielt nichts davon. Wärmestube, so ein Blödsinn. Hatte das Jesuskind in seiner Krippe nicht auch frieren müssen? Br. Heinrich nahm es mit seinem Glauben sehr ernst. Er fastete viel und fügte auch seinen Köper allerlei Schmerzen, denn er wollte wie sein HERR Jesus leiden. In Winternächten lehnte er es ab, sich mit einer Decke zuzudecken. Auf diese und viele andere Weisen quälte er sich, um nur ja jeder irdischen Freude zu entsagen. Nun saß er da an einem Adventssonntagnachmittag allein in seiner Zelle und schaute aus dem Fenster. Klarer Nebel begann vom Wald heraufzuziehen. Der Raureif hatte sich auf die Baumkronen gelegt. Stille klang aus dem Wald herüber zum Kloster. Das fade Licht der Sonne wurde an diesem Wintertag immer weniger. Was soll ich in der Wärmestube und mich dem Geschwätzt der Brüder hingegeben? Nein, ich habe besseres zu tun. Er nahm seine Heilige Schrift und las „Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen“. Er sann über das Gleichnis nach. Er war durchdrungen von dem Gedanken, dass man – wenn man Gott so recht nahe sein wollte – größtmöglichen Abstand halten müsse zu aller Art irdischer Freude und Behaglichkeit. Darum: Mit dem Bild der Hochzeit konnte Br. Heinrich nichts anfangen.
Aber damit nicht genug. Nicht nur alle Freude wollte er meiden, sondern sich in seinem weiteren Klosterleben ganz bewusst das Leben so schwer wie möglich machen. Er schaute in das Licht der kleinen Kerze. Seine Augen wurden selber lichter. Ein Nebel weiß-golden glänzend zog vor seinen Augen auf. Da kamen engelhafte Gestalten vom Himmel zu ihm herabgestiegen. Sie sangen eine wunderbare Melodie und spielten dazu auf den Zimbeln. Sie fassten ihn behutsam bei der Hand und begannen mit ihm zu tanzen: schwebend leicht, nicht nach irdischer, sondern nach himmlischer Weise. Und die Musik zu diesem wundersamen heiligen Tanz, die war nichts anderes als: In dulci jubilo! Nach dieser nächtlichen Erscheinung war der Mönch Heinrich geheilt von seinem finsteren-frommen Wahn, durch selbst zugefügtes Leiden Gott irgendwie näher sein zu wollen. Denn er hatte erkannt, dass Gott ihm bereits längst ganz nahe war: leicht und liebend, tanzend und freundlich, kindlich und unverdient. Weshalb er dann auch gar nicht anders konnte, als das Lied, das er gehört hatte, aufzuschreiben und nach Kräften zu verbreiten.
(neuerzählt von Br. Benedikt Müller OSB)