„Stell dir vor, es ist Ostern, und keiner geht hin. Weil uns keiner mehr glaubt, dass wir der Fülle des Lebens verschrieben sind. Weil wir zwar das Leben schon vor der Geburt und am Ende mit Pathos verteidigen, aber zu wenig leidenschaftlich das lieben, was dazwischen – und zwar ziemlich bunt – ist, lebt und leben dürfen will.“
So schreibt es Markus Nolte, Chefredakteur der Münsteraner Kirchenzeitung Kirche+Leben und in unserer Abtei kein Unbekannter, in einem sorgenvoll-frommen Zwischenruf zur Karwoche. Und bringt damit ziemlich genau das auf den Punkt, was mich schon seit Wochen beschäftigt.
Wie können wir Ostern feiern, wenn die Zustände in Welt, Gesellschaft und Kirche der „Fülle des Lebens“ diametral entgegengesetzt sind?
Wie können wir vom Segen Gottes sprechen, der an Ostern so machtvoll erneuert wurde, wenn ein gefühlloser Machtapparat diesen Segen, diese Gutheißung der Schöpfung durch Gott selbst, an Bedingungen knüpfen will und ihn – welche Anmaßung – Menschen, die sich aufrichtig lieben, verweigert?
Wie können wir das Leben feiern, wenn unzähligen Menschen, die in der Kirche Opfer sexualisierter Gewalt wurden, so lange nicht zugehört wurde und ihnen damit zum wiederholten Mal das Leben verweigert wurde?
Wie können wir das Halleluja singen, wenn unzählige Menschen auf der ganzen Welt erkranken, oft mit immensen Spätfolgen, ja sogar sterben und der Politik anscheinend das wirtschaftliche Funktionieren wichtiger ist als die Sorge um die Schwachen?
Können wir angesichts dieser Ereignisse überhaupt ruhigen Gewissens Ostern feiern, das Wunder der Auferstehung, das Fest des Lebens? Ist es nicht ein Hohn, angesichts solcher Ereignisse von der Liebe zu sprechen, die den Tod besiegt hat? Müssen wir nicht vielmehr beim Karfreitag bleiben, beim Tod am Kreuz, beim Leiden so vieler unschuldiger Menschen? Oder einfach den Karsamstag aushalten, den Tag der Grabesruhe, des Schweigens? Ist nicht jedes Wort ein Wort zu viel?
Je lauter diese Gedanken in mir wurden, desto mehr drängte sich ein anderer Gedanke auf, der sich nicht zum Schweigen bringen ließ: Nein, gerade TROTZ der scheinbar aussichtslosen Lage der Kirche, TROTZ des unermesslichen Leids und TROTZ des katastrophalen Zustands unserer Welt dürfen wir gerade nicht verstummen. Noch nie war es wichtiger, die Botschaft des Lebens und der Auferstehung zu verkünden als heute. Nicht am Karfreitag und am Leid der Menschen vorbei. Auch Jesus ist mit den Wundmalen, den Zeichen seines Leidens, auferstanden. Er ist nicht als strahlender Held in die Wirklichkeit Gottes eingegangen, sondern als vermeintlich Gescheiterter am Kreuz. Wenn wir angesichts des Zustands unserer Welt und unserer Kirche schweigen würden, dann hätten die triumphiert, die alles beim Alten lassen möchten, ja dann hätten sie noch einmal über die Opfer von Gewalt und Tod triumphiert. Wir dürfen uns unsere Botschaft der Hoffnung nicht nehmen lassen.
Das Osterevangelium zeigt, dass die Botschaft der Auferstehung nicht plump und triumphalistisch daherkommt, sondern mitten durch das Leid der Menschen hindurchgeht und dabei die leisen Töne bevorzugt. Jesus ist nicht am Tod vorbei auferstanden, sondern mitten durch den Tod hindurch. Seine Wundmale bleiben. Maria von Magdala ist frühmorgens zum Grab gekommen, „als es noch dunkel war“. Sie ist nicht gekommen, um einem Lebenden zu begegnen, sondern um einen Toten zu salben. Petrus und Johannes haben nur die Zeichen des Todes gesehen, die Leinenbinden und das Schweißtuch – sie kehrten nach Hause zurück, ohne den Lebenden gesehen zu haben.
Und: es fließen Tränen. Maria darf weinen, sie darf all ihre Trauer herauslassen, muss sie nicht herunterschlucken. Die Trauer um den Verstorbenen, um all das Unrecht auf dieser Welt darf sein. Und in diese Trauer hinein geschieht Begegnung. Mitten in die Tränen, in das Leid hinein ruft Jesus sie beim Namen. Und er gibt Maria den Auftrag, die Botschaft des Lebens weiterzusagen, TROTZ des Leids Botin der Hoffnung zu sein. Maria schweigt nicht, sie leistet dem Unrecht und dem Leid Widerstand.
Ja, wir dürfen heute Ostern feiern. All dem Leid auf der Welt, all der physischen und psychischen Gewalt dürfen, ja müssen wir unser HALLELUJA entgegensingen. Den Geschichten des Todes und der Verzweiflung zum Trotz müssen wir die Geschichten des Lebens und der Hoffnung erzählen. Das HALLELUJA mag in diesem Jahr leiser erklingen, stiller – aber es wird erklingen.
Markus Nolte schreibt am Ende seines Zwischenrufs: „Diese Woche könnte alles ändern. Sie hat es schon einmal geschafft, mindestens. Stell dir vor.“
Die Kölner Rockband Brings hat in der letzten Karnevalssession ein Lied geschrieben, das für mich den Nerv dieser Zeit trifft. Sie ermutigt uns dazu, das ALAAF, den Kölschen Karnevalsruf, auch in diesem Jahr zu singen, „vielleicht ein bisschen stiller“. Sie ermutigt uns dazu, gegen die Verzweiflung anzusingen, „denn sonst sind wir verloren“. Sie ermutigt uns dazu, ein Licht anzuzünden gegen die Hoffnungslosigkeit und Angst unserer Zeit, so wie wir gestern die Osterkerze entzündet haben, die unser Bruder Justus in den Farben des Regenbogens gestaltet hat, DES Symbols der christlichen Hoffnung. Ich erlaube mir, den kölschen Ruf der Freude, das Alaaf (beim Helau wird es noch deutlicher) mit dem österlichen Ruf der Freude HALLELUJA zu übersetzen:
Sieht es auch so aus, als ginge die Welt gerade unter
Mach ein Licht an
Nichts bleibt, wie es war, alles drunter und drüber
Mach ein Licht an
Ein Licht für die Stadt
Und ein Licht für die Menschen
Denn wir glauben daran
Das Leben kehrt zurück
Und wir singen Halleluja, vielleicht ein wenig stiller
Und das, was mal war, kommt ganz bestimmt bald wieder
Komm, wir singen Halleluja, denn sonst sind wir verloren
Und wir singen ganz zart für ein besseres Morgen
Wie ein kleines Kind, das im Keller Angst hat
Mach ein Licht an
Doch wir kommen da durch, schau, es wird schon heller
Mach ein Licht an
Ein Licht für die Guten
Und ein Licht für die Schlechten
Ein Licht für die Krummen
Und für die Gerechten
Und ich singe Halleluja, vielleicht ein bisschen stiller
Und das, was mal war, kommt ganz bestimmt bald wieder…
P. Maurus Runge OSB